Dienstag, 30. September 2014

Alle Macht den Fußgängern!


Unser "kleiner" Volvo Crosscountry neben einem amerikanischen Modell.

Zum Kulturunterschied zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland gehört der Straßenverkehr. Er ist nach Außen hin ähnlich, in Wirklichkeit basiert er aber auf ganz anderen Regeln. Da ich als "amerikanische Hausfrau" auf das Auto angewiesen bin und es täglich mehrmals benutze, wenn ich die Tochter in die Tagesbetreuung bringe, einkaufen fahre und sonstige Erledigungen tätige, komme ich um einen Beitrag zu diesem Thema nicht herum, auch wenn die übliche Amerika-Literatur schon einiges dazu hergibt. 

Ein Tatbestand wundert mich, je länger wir in diesem Land leben: Die großen Autos, auch SUVs (Sport Utility Vehicles) genannt. Diese Geländelimosinen gibt es hier wie Sand am Meer, nach subjektiven Schätzungen fährt jeder zweite Autobesitzer so einen Wagen. Diese Riesen-PKWs scheinen wie "Aushilfspanzer" (so nennt sie mein Mann), also sicher. Sind sie aber nicht, denn sie kippen bei Unfällen öfter um als kleine Autos. Sie behindern auch den Verkehr, denn oft genug ist die Straße schlichtweg zu eng für diese bombastischen Modelle. Außerdem hat man mit einem kleinen PKW keine Chance mit Weitsicht zu fahren, denn die SUVs sind natürlich viel zu hoch und groß und man sieht schlichtweg nichts! Wer sich also nicht total mini neben den Riesenfahrzeugen fühlen will, kauft sich auch eines. Das erklärt vielleicht, warum auch zarte Frauen solche großen Autos fahren, über deren Lenkrad sie manchmal kaum schauen können.

XL- Wer ist der Größte? Im Wettbewerb werden die Autos immer bombastischer.

Eine besonders typisch amerikanische Version ist der Pickup, ein PKW mit Ladefläche, den es natürlich auch im XL-Format gibt. Diese Autos lassen vermuten, dass gearbeitet wird, dass große Geräte oder Sonstiges darauf transportiert werden. Jetzt schwant mir aber, dass das nicht unbedingt auf hochpolierte, quasi blitzende Pickups zutreffen kann. Denn, wo gearbeitet wird, fallen Späne. Es müssten also ein paar Staubspuren auf den Arbeiter-Autos zu sehen sein. Das trifft aber nur auf rund die Hälfte dieser Fahrzeuge zu, nämlich die von (meist mexikanischen) Gärtnern oder Bauarbeitern. Ich nehme also ganz stark an, dass sich die restlichen zu 99 Prozent männlichen Fahrer ihr Ego etwas mit der Größe ihres Pickups aufpolieren müssen (oder soll ich LKW sagen?!).  Und ich habe schon oft genug beobachtet, dass die Männer, die einen XL-Pickup fahren selbst eine eher schmächtige Figur hatten.

Mein Mann interessiert sich dagegen nicht so sehr für Autos und geht zu Fuß (hier sehr ungewöhnlich). Deswegen habe ich unser Auto ausgewählt (wie ich hier berichte). Unsere Volvo-Variante ist für unsere Verhältnisse schon riesig, für mich als große Frau (immerhin 1,85 Meter) ist Beinfreiheit wichtig. Und mit Kind ist es eben auch praktisch, ein Auto zu besitzen, in das Kinderwagen und der restliche Krempel einfach zu verstauen sind. Dass alle Volvo-Anzeigen dieses Modell als "Gas-Saver" (Sprit sparend) bezeichnet haben, hat uns am Anfang nur amüsiert, wir empfanden es als Verkaufstrick. Aber mittlerweile denken wir, dass unser Auto im Vergleich zu den meisten hier, wirklich weniger Benzin verbraucht! Dabei haben wir schon ein ökologisch schlechtes Gewissen!


Ein großes Auto aus Europa (Mercedes) sieht hier aus wie Spielzeug!

Jedenfalls diskutieren mein Mann und ich des Öfteren die Autofrage, weil wir nicht über die hohe Verbreitung der SUVs hinwegkommen. Und sobald wir unsere alternative "Berkeley-Blase" mal verlassen, hat es den Anschein, dass der Prozentsatz der Aushilfspanzer noch steigt! Warum muss also ein (meistens männlicher) Amerikaner so ein Ding fahren? Wir glauben, dass es etwas damit zu tun hat, dass man sich auf amerikanischen Highways eher im "Schleichtempo" bewegt (wenn wir 65 miles per hour fahren, also etwas über 100 Kilometer pro Stunde, kriegen wir uns schon fast nicht mehr ein, weil es uns total schnell vorkommt!). Was nütz einem also hier ein Porsche oder vergleichbare billigere Kopien, wenn man eh nicht mit 200 Sachen über die Piste düsen kann. Man(n) fühlt sich in einem schnellen Auto wahrscheinlich nicht so viel besser. Also heißt es hier: ein großes Auto kaufen!

Große Autos sind auch aggressiv: An diese Spikes möchte ich nicht anstoßen!

Noch verwunderlicher wird es, wenn die SUVs nicht nur groß, sondern auch noch besonders aggressiv aufgemotzt sind: mit Spikes an den Felgen, hoher Federung, extrem weiten Außenspiegel etc. Sie sehen dann geradezu zum Fürchten aus. Aber mir wird einfach nicht klar, warum man in der Stadt mit solchen Autos herumfahren muss! Sicher, in den weiten Steppen der Vereinigten Staaten von Amerika macht ein Geländewagen ab und zu Sinn - aber die überbevölkerte San Francisco Bay Area gehört wohl kaum in diese Kategorie! Und die SUVs sind auch keine Jeeps, mit denen man über unbefestigte Feldwege pesen kann.


"Aushilfspanzer" nennt mein Mann diese Fahrzeuge.

Jetzt wird sich der geneigte Leser aber fragen, was das alles mit Fußgängern zu tun hat. Eben das ist das Paradox: In Kalifornien, wo fast jeder motorisiert ist, gehen die Rechte der Fußgänger über alles! Wer zu Fuß unterwegs ist, hat quasi immer "Vorfahrt". Zwar gibt es nicht überall Fußwege. Aber kreuzt ein Fußgänger die Straße, schreibt die Straßenverkehrsordnung vor, anzuhalten, und zwar nicht nur an Fußgänger-Überwegen. Nicht alle Autofahrer halten sich an diese Regel. Und da auch die sonstigen Vorfahrtregeln auf gegenseitigen Blickkontakt aufbauen, empfiehlt es sich auch hier, die Fußgänger immer im Auge zu behalten! Was mir schon tagsüber Schweißperlen auf die Stirn treibt, wird in der Dunkelheit erst recht anstrengend. Nett, wenn manche Menschen kleine Taschenlampen mit sich tragen. Aber hier oben auf den gewundenen Straßen von Berkeley Hills, wo Straßenlaternen eher Mangelware sind (aus Kostengründen nehme ich an), wird es Nachts richtig gefährlich! Und zwar nicht nur, weil unerwartet Hirsche auf der Straße stehen.

Wir haben die US-Verkehrsordnung mit unseren amerikanischen Freunden diskutiert und sind zu folgendem philosophischen Schluss gekommen: Hier, in dieser so freien, demokratischen Gesellschaft, möchte man sich auch im Straßenverkehr nicht an stumpfe Regeln halten und erst Recht nicht unterordnen. Statt wie in Deutschland auf klare Hierarchien von Hauptstraße vs. Nebenstraße oder gar Auto vs. Fußgänger aufzubauen (der erste hat ja bei uns automatisch Vorfahrt), gilt hier auch Demokratie auf der Straße. An den meist gleichberechtigten Straßen halten alle vier Richtungen an. Und zwar auch, wenn sonst kein Auto zu sehen ist, dafür stehen ja vier Stop-Schilder da. Das macht den Verkehr in der Stadt zu einer sehr langsamen Angelegenheit, weil man tatsächlich viel öfter anhalten muss als in Europa! Wer zuerst kam, darf in der Regel auch zuerst fahren (außer an den Ampelkreuzungen natürlich). Aber man sollte bitte immer Blickkontakt mit allen Parteien halten, um auch sicherzugehen, dass man dran ist. Netterweise winkt einem manchmal jemand vorher, dass man fahren darf. Doch manche drängeln sich auch vor. Und Gleiches gilt für Fußgänger: Gesten und Blicke bestimmen, wer Vorfahrt hat (an markierten Übergängen, die hier an jeder Straßenecke zu finden sind). Was die Verwirrung vervollständigt ist, dass Autofahrer in Kalifornien auch bei rot prinzipiell rechts abbiegen dürfen. Aber auch hier gehen natürlich die Fußgänger vor.

Mancher Kalifornien-Reiseführer beschreibt den Verkehr hier als entspannt und freundlich. Und auch wenn ich prinzipiell für die Rechte der Fußgänger eingestimmt bin (ich bin ja selbst oft einer), kann ich diesem System auch nach acht Monaten nicht viel Gutes oder gar Entspanntes abgewinnen! Ich finde es schlichtweg anstrengend, so sehr auf jeden Verkehrsteilnehmer achten zu müssen, sowohl als Autofahrerin als auch als Fußgängerin. Und schon manches Mal habe ich Fußgänger im toten Winkel übersehen. Erst Recht, wenn sie hinter einem großen Pickup hervorstürmten! Da hilft nur: Bei der Höchstgeschwindigkeit in Ortschaften von meistens 25 miles per hour (40 Kilometern pro Stunde), noch langsamer und weitsichtiger zu fahren, was den kalifornischen Straßenverkehr noch weniger effizient macht.



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