Donnerstag, 5. März 2015

Philosophische Betrachtungen


Die ganz großen Fragen im Leben stellt man sich, wenn man jung ist. (Später hat man ja nicht mehr so viel Zeit dafür.) Ich hatte allerdings vergessen, wie jung man dabei ist! Unsere Tochter ist drei Jahre alt. Sie ist im sogenannten Frage-Alter oder Warum-Alter. Allerdings ist die Frage, die sie uns mit großem Abstand am häufigsten stellt: "Why?" Das liegt daran, dass wir in Kalifornien lebten, als unsere Tochter ins entsprechende Alter kam. 

Hat sich ansonsten das Englisch nach unserer Rückkehr vor drei Monaten in Helenes aktiven Sprachgebrauch schnell zurück entwickelt, ist die "Why?"-Frage geblieben. Gekoppelt an einen leicht nervigen leiernden Tonfall. Sie hört nicht auf, sie immer und immer wieder zu stellen. Wenn ich manchmal antworte: "Ich will das jetzt nicht erklären.", stampft sie mit dem Fuß auf und sagt: "Aber Mama! Kinder wollen alles wissen!" Nicht nur der Nervfaktor kann unbequem werden, auch der Inhalt der Fragen meiner Tochter. 


Dieser Obdachlose in San Francisco hat die Nacht am Hafen verbracht, 
den Kopf auf eine Tischplatte gelehnt.

Um das zu erklären, muss ich etwas ausholen: Eine Seite der Vereinigten Staaten von Amerika, die gern unter den Teppich gekehrt wird, ist die extreme Ungleichverteilung von Geld. Es gibt wenige Superreiche und sehr viele arme Menschen. Und arm heißt leider auch richtig arm. Schon vor unserem Aufenthalt im Sonnenstaat Kalifornien hatte ich von den vielen Obdachlosen gehört, die an der Westküste leben. Denn im Winter wird es selten frostig. Man kann also nicht erfrieren, wenn man unter der Brücke schläft. In Berkeley gehören Obdachlose ganz besonders zum Straßenbild, denn die kleine Stadt in der East San Francisco Bay, hat eine sehr engagierte soziale Ausrichtung. Leider kann man die Obdachlosen also nicht ignorieren, was ich gerne getan hätte. Denn einerseits fühlte ich mich ganz hilflos (Wie verhalte ich mich denen gegenüber?), andererseits nicht zuständig (Die Amis sind doch selbst Schuld, wenn sie keine soziale Marktwirtschaft einführen!). Trotzdem taten mir die Menschen sehr leid. So etwas hatte ich vorher höchstens im ärmsten Land Europas gesehen, in Albanien, aber niemals wäre so etwas in Deutschland denkbar: Alte Menschen mit Verkrüppelungen, weil sie keine entsprechende medizinische Versorgung genießen konnten. Verrückte, denen man ausweicht, weil sie stinken und wirres Zeug reden oder wahlweise schreien. Hinzu kamen nicht nur Alkoholiker, sondern Drogenabhängige, die einfach so fertig aussahen, wie ich es nie für möglich gehalten hatte. In Downtown Berkeley kam man nicht an ihnen vorbei. (Das gehört zu meinen ersten Erinnerungen an unser Leben in Amerika.)

Ich versuchte also, schnell und in großem Bogen weiterzugehen. Meine Tochter hat das am Anfang noch ignoriert, aber als sie ins Frage-Alter kam, stellte sie auch zu den Obdachlosen Fragen. Einmal saß eine Frau im Schlafsack und in mehrere Jacken gehüllt am Sonntag Vormittag vor der Bibliothek. Wir wollten unsere Bücher zurückgeben, die man auch Sonntags von Außen durch einen Schlitz werfen kann. Die Obdachlose versperrte uns den Weg und ich musste sie ansprechen. Sie rückte mürrisch zur Seite. Zurück im Auto sprudelte es aus Helene nur so heraus: "Why hat diese Frau kein Haus? Why gibt es zu wenige Häuser? Why hat die kein Geld? Why hat sie keinen Papa?" (Mit letzterem meinte sie den Ehemann, der Geld verdient.) 

Unsere Tochter hatte auch gleich einen Lösungsvorschlag für die Berkleyer Wohnungsfrage (denn ich hatte ihr erklärt, dass es nicht genug Häuser gäbe und wenn wären sie sehr teuer): "Aber in Leipzig gibt es ganz viele Häuser!" Ja, eigentlich hatte sie recht. In Leipzig herrscht trotz des Hypes um die Stadt immer noch Wohnungsleerstand. Warum nicht ein paar Obdachlose aus den USA einfliegen? Amerikanern gegenüber wäre mancher Leipziger vielleicht offener als gegenüber Kosovaren oder Syrern?!

Später griff Helene das Thema wieder auf, weil die obdachlose Frau einen großen Eindruck bei ihr hinterlassen hatte. Sie wollte wieder wissen, warum manche so wenig besitzen, dass sie nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben. Ich schlug vor: "Wir können ja mal überlegen, wie wir denen helfen können." Die prompte Antwort meiner Tochter: "Nein, das soll dieser Jesus machen!" Aha! Wessen Geist offenbarte da mein Kind? Ist es nicht ziemlich einfach, sich als Christ darauf zu beschränken, Mitgefühl im Gebet zu haben, aber ansonsten Nichts zu unternehmen? Was die kalifornischen Obdachlosen betraf, reagierte ich wie mein Kind. Mein Mitleid wich meiner Überforderung und erzeugte leider keine guten Taten.

Aber vielleicht wird es diesmal etwas greifbarer: In einer deutschen Familienzeitschrift hatte ich über das Schicksal von Kinderwitwen gelesen. Von Mädchen, die lange vor ihrer Volljährigkeit von ihren Eltern verheiratet werden und deren Ehemann früh stirbt. In manchen Ländern werden sie von der Gesellschaft ausgeschlossen, weil man glaubt, sie seien Hexen. Ich betete, dass Gott mir zeigt, wie ich ihnen helfen kann. Am nächsten Tag lag eine Broschüre meiner Zeitung bei, über eine Organisation, die sich um Mädchen kümmert, die vielleicht mit elf Jahren verheiratet werden. Ich kann eine Patenschaft übernehmen, damit ein Mädchen aus einem Land, das ich auswähle, Bildungsangebote bezahlen kann und eine Geburtsurkunde bekommt. Ich kann dem Mädchen schreiben und es sogar besuchen, wenn ich möchte. Helene fand die Broschüre und wollte natürlich wissen, wer die darauf abgebildeten Kinder sind und in welchen Ländern sie wohnen. Ich erzählte ihr, dass ihre Familien nicht genug Geld hätten, so dass sie auch nicht zur Schule gehen können. Helene schaute mitfühlend: "Haben die auch kein Spielzeug?" Ich sagte: "Nein, nicht sehr viel." Da war ihre selbstverständliche Antwort: "Ich kann den Mädchen was von meinem Spielzeug abgeben." 


Helene liebt "Lesen" und Nachdenken  - das sollten alle Mädchen dürfen!


Auch Gedanken über Geburt und Tod beschäftigt unsere Dreijährige gerade sehr. Dazu kommen Fragen der Religion. Zur Zeit fragt sie mich so viel über Jesus aus, dass man meinen könnte, wir sprechen zu Hause über Nichts anderes, was allerdings gar nicht stimmt! Gestern wollte sie von mir wissen: "Why ist Jesus Gott?" und "Why kann man Jesus nicht sehen?" und "Why ist Jesus traurig, wenn wir uns streiten?" und "Why wohnt Jesus in unserem Herzen, ist der ganz klein?" 

Meine Antworten will ich hier nicht aufschreiben, denn mich bringt es schon genug ins Schwitzen, meiner Tochter diese großen Fragen zu erläutern. Am meisten erstaunt es mich, dass sie meine Glaubensvorstellungen gründlich abklopft. Einige davon sind aber seit meiner eigenen Kindheit ins Wanken geraten. Auch wenn ich dankbar über meinen kindlich erlernten Glauben bin, stelle ich vieles davon inzwischen in Frage. Im Herzen habe ich allerdings immer noch diese Sehnsucht ... Heute stand mein Kind irgendwann neben mir in der Küche, spielte mit den Kühlschrankmagneten (worauf unter anderem Tiere, Blumen, The Beatles und Jesus sowie Die Mutter Gottes zu sehen sind) und sang ihre eigene Komposition: "Danke Jesus, dass du willst, dass wir immer nett sind."


Helenes Kühlschrankmagneten-Design. Allerdings fehlt Jesus hier, der brauchte seine Ruhe!



Freitag, 27. Februar 2015

Himmelsgespräche


Es sind nur noch Stunden bis der Mann und heiß vermisste Papa auf dem Flughafen Halle/Leipzig landet. Zurück von seinem Abenteuer Auslandsaufenthalt, das bei ihm drei Monate länger dauerte als bei mir und unserer Dreijährigen. Zurück aus dem dunklen Norwegen, gerade rechtzeitig zum Frühlingsanfang, der sich in Deutschland um ein paar Wochen geirrt hat. Zum Glück ist er etwas zu früh! Lange hätte es auch nicht mehr so weitergehen dürfen, so grau und einsam und kalt! Helene und ich verbringen die letzten Stunden zu zweit und bereiten Überraschungen für den Papa vor. (Aber nicht verraten!)

Das veranlasst mich, noch einmal auf den Zustand der letzten Monate zu blicken, in dem Wissen, es ist fast geschafft: Diese Art von Fernbeziehung war uns bisher erspart geblieben. Denn seit sich der Mann und ich verliebten, wohnten wir im selben Kiez, beinahe Tür an Tür. Daraus wurde sogar Wand an Wand, als ich in Falks WG einzog. Länger als eine Woche waren wir noch nie getrennt - und das nach inzwischen sieben Jahren Beziehung! Kaum vorstellbar. Da wurden wir also auf eine neue Bewährungsprobe gestellt. Und fast hätten wir dabei verloren, denn wir sind alle beide nicht fürs Alleinsein geschaffen. Wie wohl kaum einer.


Helene spielt mit einem ausrangierten DDR-Telefon.

Eine große Herausforderung war - wie in jeder Beziehungslage - die Kommunikation. Denn plötzlich stand da ein technisches Gerät zwischen uns: der Computer. Und auch, wenn man denkt, die heutige Technologie-Entwicklung versetzt uns in eine positivere Lage als frühere Generationen, mussten wir doch feststellen: Man redet aneinander vorbei. Lange habe ich einen Namen gesucht für dieses Telefonieren mit Bild, auch wenn tausende Kilometer zwischen den Gesprächspartnern liegen. Davon hatte mir übrigens mein Großvater bereits zu DDR-Zeiten vorgeschwärmt, dass das die Zukunft sein wird! Ein Anbieter, der früh den Markt besetzt hat, prägte den Namen, aus dem sich meine "Himmelsgespräche" ableiten. Wir nutzen übrigens inzwischen einen anderen Internet-Dienst. Aber die Ausgangslage ist immer ähnlich: Die Hälfte des Gesprächs sagt einer: "Hörst Du mich?" oder: "Das Bild hängt." oder: "Sag das noch mal, bei mir kam alles ganz abgehackt an." usw. Fast war es wie in der Eheberatung: "Fassen Sie in Ihren eigenen Worten noch einmal das Gesagte zusammen und beginnen mit: ’Habe ich Dich richtig verstanden, dass ...?'!" Um es kurz zu fassen: Es war frustrierend!

Schlimm war, wenn die Internetverbindung im entscheidenden Moment, wenn ich den Mann mal wirklich zum Zuhören brauchte, auch noch wegen Unwetter oder ähnlichen Katastrophen lahm lag. Ich kann zwar am Bildschirm verfolgen, wo das Flugzeug, in dem der Gatte gerade sitzt, so lang fliegt, aber näher gebracht hat uns das Internet nicht wirklich. (Natürlich hat das Weltweite Netz viele Vorteile, gerade wenn man einen Auslandsaufenthalt plant: Man kann von Deutschland aus eine Wohnung in Amerika suchen und mieten, nach einer Kinderbetreuung Ausschau halten, sich bei irgendwelchen Unikursen einschreiben oder die Straße schon einmal virtuell entlang schlendern, damit man dann am ersten Arbeitstag gleich den Weg findet. Sogar seine Einkäufe kann man vor der Abfahrt online bestellen, die dann vor der Tür stehen, nachdem das Flugzeug gelandet ist!)

Wartet jemand wie ich aber auf einen handgeschriebenen Brief, in den der Mann viel Liebe und seine Gedanken gesteckt hat, bekommt man immer nur E-Mails, die man nicht einmal anfassen kann. Pech gehabt, warum habe ich auch einen Nerd geheiratet?! Leider ersetzen E-Mails und selbst Himmelsgespräche eben doch nicht die Nähe, die zu einer Beziehung gehört. Noch ein paar Wochen und ich hätte mir einen Lover suchen müssen! Nun saß ich aber sowieso mit dem Kind die ganze Zeit brav zu Hause und konnte nach 18 Uhr leider niemanden mehr kennen lernen - also auch keine echte Option ... Aber nun ist es ja geschafft. Wahrscheinlich müssen wir sogar das Zusammen-Sein noch einmal neu üben.

Das Kind hat unser "Jetset-Leben" übrigens sofort kopiert. Sie schaut den Hörer ihres Spielzeugtelefons an und erzählt mir, wen aus ihrer kalifornischen Kindergruppe sie gerade sieht. Die fliegen auch immer mal zu uns und besuchen Helene, manche Freunde kommen täglich vorbei! Wenn ich dann die Wohnungstür nicht aufmachen will, kriechen sie sogar durch den Spalt unter unserer Tür! Personen-Beamen ist da gar nicht mehr weit entfernt. Wer weiß, vielleicht erzähle ich meinen Enkeln, dass das die Zukunft ist, und wenige Jahre später machen die es tatsächlich. Nur, ob sie sich dadurch auch wirklich näher kommen, bleibt die Frage!


Samstag, 21. Februar 2015

Gebt mir Grünkohl!

In dieser Woche hatte ich eine zweite Sehnsuchtsattacke, in der ich großes Fernweh nach Kalifornien verspürte: Mir wurde plötzlich schlagartig klar, dass die da drüben in manchen Punkten eben doch schneller sind als wir, und es mich größere Mühen kosten wird, das mir dort lieb Gewordene in Deutschland zu organisieren. Genau das ist das richtige Wort! Denn ich kann nicht einfach in den Laden gehen und es kaufen. 

Es geht um Grünkohl.

Was? Ist die völlig bescheuert?!, wird mancher Leser vielleicht denken. Erstens ist nichts deutscher als Grünkohl - allein schon dieser Name! Zweitens, wer isst das schon freiwillig? Da hat man entweder das Bild der Oma im Kopf (kombiniert mit fettigstem Fleisch), oder aber das von anstrengenden Öko-Idealisten (kombiniert mit trockener Getreidebeilage). So ging es mir jedenfalls.

Ich habe aber in Kalifornien ein neues Gemüse kennen gelernt, nämlich "kale". Das klingt gleich nicht mehr so abschreckend! "Kale" ist der Verkaufsschlager im gesundheitsbewussten Sonnen-Staat. Es gibt "kale-kiwi-smoothies", vegetarische "kale-tofu-wraps", salzige "kale-chips" und "kale-salad". Und vor allem: Es gibt eine große Auswahl verschiedener "kale"-Sorten in den Supermärkten. Der mit den rötlichen, eher glatten Blättern hat mir am besten geschmeckt, "russian kale". Aber hier suche ich vergebens nach einer anderen Sorte Grünkohl, als der krausen, grünen, denn es gibt nur diese eine. Wer es besser weiß, meldet sich bitte umgehend bei mir und nennt mir den Dealer!

Denn wie sehr ich "kale" und seine amerikanischen Zubereitungsvarianten vermissen würde, habe ich erst begriffen, als ich noch einmal auf Deutsch die tollen Eigenschaften des Grünkohls recherchierte: Der ist nämlich das beste, weil extrem nährstoffreiches, Gemüse, das man sich nur vorstellen kann! Grünkohl liefert nicht nur sehr viele Vitamine, Mineralstoffe wie Eisen und Proteine (auf deren Einnahme selbst amerikanische Kinderärzte gesteigerten Wert legen), sondern wirkt auch entzündungshemmend und antioxidativ. Und von allen diesen guten Eigenschaften hat diese Kohlsorte besonders viel. Etwas Grünkohl verspricht also eine große Wirkung! Genau das Richtige, um in einer auf maximale Leistung trainierten Gesellschaft gut anzukommen.

Grünkohl gilt unter Ernährungswissenschaftlern als die vorbeugende Maßnahme gegen Krebs (bei gleichzeitig weniger Fleischverzehr) und entzündungsbedingten Krankheiten wie rheumatischer Arthritis. Das besonders ballaststoffreiche Gemüse senkt obendrein den Cholesterin-Spiegel und stärkt das Herz-Kreislauf-System. Da dachten sich nicht nur die Amis: Einfach nur Wow! Ich auch. 

In Amerika habe ich ja einen unverkrampften Umgang mit Bio-Läden kennengelernt. Denn, um es mit den Worten meines Mannes zu sagen: "Auch die Bio-Anhänger denken in Amerika verkaufsorientiert. Da dürfen sie eben niemanden ausschließen." Deshalb setzen sie ihre Hemmschwelle extrem niedrig an. Das führt dazu, dass auch Bio-Supermäkte gute Gefühle wecken, optisch ansprechend sind und eine breite Palette an leckeren Snacks und vor Ort gekochten Speisen "to go" anbieten, wobei Grünkohl-Gerichte als Kassenschlager ganz oben stehen. Da macht "organic" sogar richtig Spaß und die Kunden zahlen auch gerne mehr Geld für die teureren Produkte! Im Leipziger Bio-Laden beschleicht mich dagegen immer noch das Gefühl, in die Räume einer eingeschworenen Gemeinde einzudringen, zu der ich nicht dazu gehöre. Die rote Variante des Grünkohls habe ich dort nicht gefunden.

Aber zum Glück habe ich eine Freundin, die in Kalifornien lebt, und quasi an der Quelle sitzt! Ich habe ein paar Samen bestellt, um die Grünkohl-Zucht auf meinem Balkon zu starten. Da wandert nun der "russian-kale" von Rußland nach Amerika und zurück nach Europa. Ich kann die Aussaat kaum erwarten! Und auch wenn dies hier niemals ein Mutti-Koch-Blog werden sollte, werde ich bei erfolgreicher Ernte auch Rezepte verraten. Dazu bin ich einfach zu begeistert! (Und da ich blöderweise das "kale"-Regal im Supermarkt nie fotografiert habe, kann ich die Bilder auch erst nach meinem Garten-Experiment nachreichen.)

Montag, 16. Februar 2015

Stimmungen in Norwegen


Wenn der Mann um die Welt reist, ganz dienstlich natürlich, dann reise ich eben hinterher. So kommt es, dass wir in der denkbar ungünstigsten Jahreszeit in Norwegens zweitgrößter Stadt, in Bergen, gelandet sind. Das Kontrastprogramm zu Kalifornien: nirgendwo in Europa regnet es mehr als hier. Die Luftfeuchtigkeit beträgt durchschnittlich 75 Prozent, das ganze Jahr über. Die Norweger sind ein ruhiges, in der Regel gut gekleidetes Volk, unter dem die Gleichstellung von Mann und Frau normal und die Einkommensunterschiede gering sind. Grummelig sind sie trotzdem, Begeisterungsstürme sind selten zu erwarten. Nur die Lebenshaltungskosten lassen sich mit denen in San Francisco messen. Ich dachte ja, teurer geht es nicht! Nur sind eben hier auch die Steuern extrem hoch und in Folge die öffentlichen Einrichtungen und sozialen Leistungen schick. Dabei leben die auch noch in einer Monarchie!

Die Jahrhunderte alten engen Gassen in Bergen mit den schmucken Holzhäusern haben es mir natürlich angetan, sogar bei Regen. Deutsche waren in Bergen bereits seit dem Mittelalter gegenwärtig, die Hanse prägte das Stadtbild. Überhaupt: diese Geschichte! Da fragt man sich, was die Menschen bewogen hat, sich schon vor 10.000 Jahren hier im Norden niederzulassen, wo aufgrund der Dunkelheit Winterdepressionen geradezu vorprogrammiert, das Wetter unbehaglich und die Landschaft karg sind. Wer geht schon freiwillig in diese nasse Kälte?!

Sie haben es sich aber ganz hübsch gemacht mit ihren bunten Häusern, diese Norweger. Anscheinend haben sie gelernt, sich mit den Elementen zu arrangieren. Die rauen Felsen sehen bei näherer Betrachtung sogar märchenhaft aus, so Moosbewachsen wie sie sind. Und Edvard Munch echt und in Farbe zu bestaunen, gibt auch etwas her. Da zeigt sich doch, dass auch den Norwegern tiefe Gefühle nicht fremd sind!

Leider währt mein Aufenthalt nicht lang genug, um noch mehr Klischees zu widerlegen. Nur eines noch: Große starke Männer (sprich: Wikinger) trinken Milch - und zwar fettlose! Als mein Gatte und ich ratlos vor dem Kühlregal im Supermarkt nach der Milchpackung mit natürlichem Fettgehalt suchen, fragen wir nach. Der Wikinger sucht. So etwas trinken in Norwegen nur Omas, erfahren wir. Aha! Deshalb stehen nur wenige Exemplare in der untersten Ecke versteckt. Der Wikinger erklärt weiter: "Hier, das ist die Milch, die ich immer kaufe: 0,1 Prozent Fett, fast wie Wasser, das ist die Beste!" Bei den lächerlich hohen Alkohol-Steuern haben sich die Nordmänner wohl ein neues Lieblingsgetränk suchen müssen!

An einem Wochende besteigen mein Mann und ich dann das Boot für einen Ausflug in den Sognefjord und geraten in den Schneesturm Ole. Uns wird mulmig im Magen, aber die Norweger bleiben cool. "Windstärke 7,9 - das ist offiziell noch nicht einmal Sturm!", erfahren wir von der Crew. Der Fjord ist so aufgewühlt wie auf keinem Bild in den Touristen-Prospekten. Das Hotelzimmer in Vik finden wir vor lauter Schneeverwehungen kaum. Außerhalb der Saison herrscht in dem Örtchen völlig tote Hose. Belohnt werden unsere Anstrengungen am nächsten Morgen als wir die Stabkirche Hopperstad aus dem Jahr 1130 schwarz und knorrig im weißen Schnee vorfinden.  

Norwegens raue Schönheit ist einzigartig.  Hier einige Beweise, die ich einfangen konnte:

Landeanflug: Insellandschaft vor der Westküste Norwegens.

Holz in hellen, bunten Farben - so lebt man froher im Winter.



In Alt-Bergen (Gamle Bergen) stehen die kleinen Häuser dicht gedrängt.


Mehrere große Brände - begünstigt durch die Holzbauweise vernichteten viele alte Straßen
- diese hier gibt es noch immer.



U-Boot der norwegischen Marine im alten Hafen. Das erste Mal, dass ich sowas sehe!

Kriegsschiff aus ferneren Zeiten.

Bryggen - das deutsche Hansequartier ist noch enger gebaut als der Rest.

In diesen Speichern lagerten schon im Mittelalter wertvolle Waren.

Eingang zu den "Tyske Bryggen" vom Hafen.


Die Gebäude sanken seit Jahrhunderten ab, deshalb ist diese Tür eben schräg.

Blick auf den Hafen Bergens vom Berg Fløyen.

Schneespaziergang in Vik, am Sognefjord.


 Panoramabild - zum Vergrößern anklicken. 

Hopperstad Stabkirche in Vik, 1130 erbaut.





Heidnische Symbole waren beim Bau geduldet.
So entstanden die berühmten Drachenköpfe an den Stabkirchen.

Türverzierung. Die Kirche ist außerhalb der Saison geschlossen - alles andere auch.


Die schwarze Farbe ist kein Ruß, sondern Teer, der das Holz schützen soll.

Diese Kirche ist nur 50 Jahre jünger als die Stabkirche und aus Stein.

Deshalb erinnerte sie eher an Mecklenburg, aber ist untypisch in Norwegen.



Der Sognefjord versteckt sich das ganze Wochenende im Nebel.






Das Schnellboot gehört zum öffentlichen Verkehrssystem und bringt uns zurück nach Bergen.



Donnerstag, 29. Januar 2015

"My heart cried out for you, California"*

Heute hatte ich das erste Mal große Sehnsucht nach Kalifornien! Nach genau 60 Tagen deutscher Gräue, immerwährendem nasskalten Nieselregen, Sonnenuntergängen kurz nach dem Mittagessen, Öfen in unserem unsanierten Altbau anfeuern (inklusive sich gleichmäßig verteilendem Kohlen- und Aschestaub), unfreundlich dreinblickender Gesichter (denn wie kann man bei diesen Umständen auch noch freundlich gucken) sowie fünf Lagen Wollklamotten und trotzdem einer Erkältung nach der anderen. Zugegeben: Ich hatte am meisten Sehnsucht nach der kalifornischen Sonne! Nach diesem gleißenden Licht, das alles andere in den Schatten stellt. Nach den Magnolienbäumen, die im Februar bereits blühen (dann wieder im Mai und schließlich noch einmal im November!). Nach dem Eukalyptusduft in der Luft und den Kolibris, vor dem Küchenfenster. Und schließlich nach einem echten Coffee to go.


Einer der wenigen Lichtblicke im Leipziger Winter: Zwei Tage Schnee! Blick in unseren Hof.

Denn als wir heute aufwachten, war das Wasser abgestellt (ein Rohrbruch unter der Scharnhorststrasse). Die Bauarbeiter buddelten und wir konnten weder duschen noch Zähne putzen. Und, oh Schreck: Ich konnte natürlich ohne Wasser auch keinen Kaffee kochen!!! Die Sonne schenkte uns einen dieser seltenen Momente in diesem Winter, wo sie vom wolkenfreien Himmel schien. Ich packte also mein krankes Kind dick ein und marschierte zum Hotel Seeblick (wobei dieser Name irreführend ist, da es dort weder ein Meer gibt, noch einen Ausblick und es sich noch nicht einmal um ein Hotel handelt). Doch sobald wir uns auf die Straße begaben, schoben sich dicke, dunkle Wolken vor die Sonne, die wir so dringend nötig haben. Da scheint sie nun in Kalifornien zuviel und alle dort würden sich über einen ordentlichen nassen Winter freuen, und hier kommt sie viel zu selten hervorgekrochen!

Als ich aus dem Hotel, also dem Café, mit meinem koffeinhaltigen Lebensexelier in der Hand in den grauen Himmel starrte, packte mich das Fernweh wie noch nie seit unserer Rückkehr. Plötzlich erscheint das andere in einem schönen Licht, die negativen Seiten verblassen - natürlich auch so eine Phase des Rückkehr-Kulturschock. Ich musste wieder an eines der schönsten Lieder von Joni Mitchell denken, dieser Singer-Songwriter-Ikone, in dem sie über ihr Heimweh nach Kalifornien singt. Aus diesem Lied stammt auch die Zeile in der Überschrift. Nur hatte ich es vor zehn Monaten mit umgekehrtem Vorzeichen gehört und Rotz und Wasser geheult, weil ich mein Zuhause, also Leipzig, so sehr vermisste!


Gegen die Kälte helfen Wolle und Zwergenmützen!

Meine Dreijährige erlebt ebenso einen Kulturschock, nur ist nicht ganz so klar, ob man da noch von Rückkehr reden kann. Denn immerhin hat sie knapp ein Drittel ihres Lebens in Kalifornien verbracht und fast alles, an was sie sich noch erinnert, stammt aus dieser Zeit. So "besuchen" uns ihre Freunde aus Berkeley immer noch und sitzen in ihrer Phantasie mit bei uns am Esstisch. Den Höhepunkt bildete ein Alptraum vor zwei Wochen, an den sie sich bis heute erinnert: Im Traum stürzte unser Leipziger Haus ein (sieht ja auch nicht so schick und stabil aus wie unsere Nachbarhäuser). Sie wachte auf und weinte und sagte immer wieder, sie wolle nicht hier bleiben, sondern in ein anderes Land ziehen, sie wolle wieder zurück in unser Haus in Berkeley. Sie kann ja nicht wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Haus in der San Francisco Bay Area einstürzt, um ein Vielfaches höher liegt als bei einem mehrstöckigen, über hundert Jahre alten deutschen Gebäude. Auch wenn die Fassade schon etwas bröckelt.

Die Anhänglichkeit meiner Tochter ist nach unserer Rückkehr nach wie vor so hoch, dass es mich belastet. Sie will einfach kaum eine Minute allein in einem Raum sein. Seit ihr Papa für fast drei Monate aus ihrem Leben verschwunden ist, sie sich in ein neues Land, ein neues Zuhause und einen neuen (großen) Kindergarten eingewöhnen muss, hat sie existenzielle Ängste. Sie freut sich nie auf den Kindergarten und weint, wenn ich sie morgens dort verabschiede - so etwas sind wir von unserer Tochter gar nicht gewöhnt. Aber nachvollziehbar ist ihr Verhalten natürlich sehr. Auch, dass sie mich immer etwas unsicher fragt, ob wir das Spielzeug behalten können (denn sie musste ja ihre meisten Schätze in Kalifornien zurücklassen). Eine neue Bekannte, Amerikanerin, die jahrelang am englischen Kindergarten in Leipzig gearbeitet hat, sagte, dass sie oft beobachtet hat, wie Kinder, die hierher kamen, eine gewisse Habgier entwickelten. Helene schließt ihr Lieblingsspielzeug im Schlafzimmer ein, bevor wir Kinderbesuch bekommen. Während des Besuchs verschwinden dann auch noch Kinderstühle, Anziehsachen und weiß der Kuckuck was bei den Eltern. Begleitet wird das Ganze von Wutanfällen, falls das andere Kind doch etwas anfässt, was sie nicht hergeben will. Eine normale Reaktion also?! Ich finde es echt anstrengend!

Meine eigenen Unsicherheiten helfen da natürlich nicht weiter. Denn es war ja der Mann, der wegen dem Job ins Ausland gegangen ist, und ich nur die Begleitung. Meine sogenannte Karriere habe ich damit noch ein bisschen mehr auf die lange Bank geschoben, und die kommt nach der Rückkehr auch nicht freudig von selbst wieder zurück. Denn Babypause, Auslandaufenthalt und das ganze Pipapo lassen dann schon eine deutliche Lücke in meinem Lebenslauf klaffen.

Und noch etwas ist mir nach unserer Rückkehr aufgefallen: das Rauchen im öffentlichen Raum, sprich auf der Straße. Während die gesundheitsbewussten Kalifornier sich wenigstens schämen, wenn sie sich mal draußen mit der Zigarette zeigen, und zur Seite drehen, wenn ein Kind vorbeikommt, wird in Deutschland gequarzt, was das Zeug hält. Bei einer virtuellen Wohnungsbesichtigung in Berkeley wurden wir darauf hingewiesen, dass auf dem gesamten Grundstück Rauchverbot bestehe! Der weitläufige Campus der UC Berkeley ist sowieso komplett Qualm-frei. Auf den Straßen zogen eher Marihuana-Wolken an uns vorbei als die von Zigaretten. Ich bin diese Art von Luftverschmutzung also überhaupt nicht mehr gewöhnt und es fällt mir viel mehr auf als vorher, wie viele Leute eigentlich so rauchen! Und obwohl bereits vor sieben Jahren das Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden und Restaurants in Deutschland eingeführt wurde, fand ich in unserer Nachbarschaft trotzdem unten gezeigtes Schild. Das fand ich dann schon wieder lustig!


Offizielle Raucherlaubnis - eine deutsche Spezialität?


* Joni Mitchell singt in dem Lied "California" von ihrem Heimweh, das sie in Europa erfasste: 

"Oh it gets so lonely
When you're walking
And the streets are full of strangers
All the news of home you read
Just gives you the blues

(...) 

California I'm coming home"

Freitag, 23. Januar 2015

2015 beginnt mit einem Knall


Während meine Dreijährige und ich uns versuchen, wieder an den deutschen Alltag zu gewöhnen (frühes Aufstehen wenn's draußen noch dunkel ist, den ganzen Tag kein Sonnenschein, dementsprechend unmotivierte Gesichter, Kisten auspacken, Behördenkram erledigen unterbrochen von Krankheitsfällen weil es draußen einfach nur eklig ist, neue Freunde finden in einem neuen Kindergarten usw.) - gehen unheimliche Schlagzeilen um: die Deutschen sind mal wieder gegen etwas. Das fällt uns leicht. Ich bin auch gegen vieles und kann gut meckern - das habe ich selbst in Kalifornien nicht verlernt. Aber diesmal gehen die Gegen-Leute zu Tausenden auf die Straße. Sie haben Angst vor der Islamisierung des Abendlandes. "Peinlich", ist gar kein Ausdruck.

Zum Glück gibt es auch Gegner dieser Gegen-Leute, die auch auf die Straße gehen und das sind mehr. Sie wollen alle willkommen heißen in unserem Land. Das finde ich schön, denn ich selbst war ja gerade fremd und kenne daher das Gefühl ganz gut. Und da plagte mich nicht einmal Hungersnot oder Krieg in der Heimat, mich trieb auch nicht die Hoffnung an, meine Kinder sollten es mal besser haben als ich. Trotzdem fand ich es schön, dass mir alle positiv gesinnt waren in den USA (meine Herkunft machte es mir allerdings leicht in dieser Beziehung).

Die Gegen-Bewegung und ihre Gegner marschieren neuerdings auch in Leipzig herum. Letzte Woche waren es noch 4.000 zu 35.000, am Mittwoch dann circa 5.000 zu 20.000. In Leipzig ist was los! Und ich wäre gern dabei, um Position zu beziehen. Aber da der Wissenschaftler-Gatte in Norwegen arbeitet und unser Babysitter selber demonstriert, bleibe ich brav mit dem Kind zu Hause. Ich lese lediglich die lokale "Lügenpresse" (wie sie natürlich von den Gegen-Leuten genannt wird). Jedenfalls schaffen es die Marschierer die gesamte Stadt auf den Kopf zu stellen. Busse und Straßenbahnen fahren ab dem frühen Nachmittag nicht mehr und im Zentrum traut sich keiner, shoppen zu gehen. Die meisten Geschäfte haben sowieso zu. Und dann kommen auch noch die ganz brutalen Gegen-Gegner und legen Brände an den Bahngleisen, zünden Autos und Mülltonnen an - ob sich da Asylanten wirklich sicherer und noch willkommener fühlen?!

Meine deutschen Leser kennen diese Schlagzeilen und haben vielleicht ein ähnliches Problem vor der eigenen Haustür. Die internationalen Freunde meines Blogs haben aber möglicherweise noch nicht von diesen News gehört. Ich entschuldige mich schon einmal für diese Abfuhr, die Ausländern hier erteilt wird. Ich frage mich auch, was sich noch ändern muss, damit die Angsthasen keine Angst mehr vor dem Fremden haben müssen. Aufklärung, Gespräche, die anderen Menschen kennen lernen - solche Sachen eben. 

Wir selbst gehen neuerdings halbregelmäßig in die Englische (anglikanische) Kirche in Leipzig. Da wimmelt's nur so vor Leuten aus der Fremde. Und da werde auch ich wieder mit meiner Angst vor dem Anderen konfrontiert. Es gibt eben auch in dem bei uns eher beliebtem anglo-amerikanischen Kulturkreis Angewohnheiten, die uns fremder sind, als wir denken. Die sagen oft nur durch die Blume wogegen sie sind, nicht so platt wie wir. Mit der deutschen Art komme ich trotzdem besser klar, weil ich eben so aufgewachsen bin, ich bin daran gewöhnt. Bei Amis frage ich mich bis heute: Ist das jetzt wirklich so gemeint, oder sagen die das nur, um nett zu sein??? Aber vielleicht hilft mir die Gemeinschaft mit den Nicht-Deutschen diese Feinheiten besser zu verstehen. Ich hoffe es. Und ich hoffe auch, dass ich dort ganz praktisch Menschen in Deutschland willkommen heißen kann, für die alles überwältigend neu und anders ist und die mit dieser direkten deutschen Art vielleicht völlig überfordert sind. 

Ich bin jedenfalls dafür!