Dienstag, 2. September 2014

Kinderarmut vs. Kinderreichtum


Mein Mann diskutiert seit Tagen mit mir über die Nachteile eines Lebens in Deutschland. Der Aufenthalt in den Vereinigten Staaten von Amerika hat ihn in seinem Denken stärker beeinflusst, als wir beide vorher vermutet hatten. (Dabei bin doch eigentlich ich diejenige, die anderen Kulturen gegenüber offener ist. Aber dieses Mal ist es anders herum!) Etwas, was meinen Gatten besonders umtreibt ist der Fakt, dass Deutschland ein stark überaltertes Land ist. Das ist für ihn zwar keine neue Erkenntnis. Schon länger regt ihn auf, dass die Überalterung und demzufolge die Ungleichstellung der Generationen von der Politik in der Heimat ignoriert wird. Außerdem sorgt er sich als Vater, dass seine Tochter ein Leben unter Rentnern fristet, für deren Einkommen sie einmal arbeiten muss, während für sie nichts übrig bleibt.



Da wir hier mit einer (etwas) anderen Kultur konfrontiert sind, fallen uns besonders die Unterschiede zwischen Deutschland und Amerika auf. Und wir sehen eben viel mehr junge Familien, und vor allem pro Familie meistens zwei Kinder. Beim gestrigen Feiertag (der Tag der Arbeit wird in Klaifornien am 1. September begangen), liefen uns im Park auch zahlreiche Familien mit drei oder vier Kindern über den Weg. 

Laut einer Statistik in Der Zeit (vom 30. April 2014) beträgt die durchschnittliche Geburtenrate in Deutschland derzeit gerade mal 1,4, während in den USA jede Frau statistisch 2,0 Kinder bekommt (selbst die Chinesen liegen mit 1,6 Kindern höher als Deutschland). Entscheidend ist sicher das Alter, wann eine Frau ihr erstes Kind bekommt. Eine Deutsche ist bei ihrer ersten Geburt durchschnittlich 29 Jahre alt, eine Amerikanerin nur 25. Klar, dass frau dann mehr Spielraum hat, denn die biologischen Uhren ticken ja in beiden Ländern gleich schnell. Bei der Geburt des ersten Enkel sind Deutsche demzufolge auch älter, nämlich im Schnitt 57 Jahre, während Amerikaner mit 52 Jahren Großeltern werden.



Wir gehen mit bestem Beispiel den deutschen Weg voran: Wir haben bisher nur ein Kind, und ich war bereits 33 bei der Geburt unserer Tochter. Unsere fast Dreijährige ist zudem die einzige Enkelin in der gesamten Familie, obwohl sowohl Falk als auch ich mehrere Geschwister haben. Nicht dass man diese Fakten immer bewusst wählt. Das Leben verläuft doch oft anders, als man es sich so vorstellt oder wünscht. 

Ich habe aber darüber nachgedacht, warum sich diese zwei Länder in diesem Punkt so sehr unterscheiden. Denn an der allgemeinen Kinderfreundlichkeit der Amerikaner kann es nicht liegen. In den USA ist es so viel schwerer, ein Kind großzuziehen: Der Mutterschaftsurlaub beträgt hier im Schnitt nur 12 Wochen, der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet den Frauen den Arbeitsplatz offen zu halten. Eine finanzielle Unterstützung ist kaum gegeben und erst recht nicht mit dem Elterngeld in Deutschland zu vergleichen. Die Kinderbetreuung wird bis auf wenige Ausnahmen nicht staatlich subventioniert bevor die Kinder mit fünf Jahren in den "kindergarden" (Vorschule) kommen. Krippen oder Tagesmütter kosten Vollzeit schnell mal 1.000 Euro pro Monat. Dieser Betrag muss privat gezahlt werden, falls die Mutter wieder arbeiten geht, und er verdoppelt sich natürlich, wenn zwei Kinder betreut werden müssen. Und erst recht das Studium der Kinder wird hier kostspielig, da es ebenso meist komplett aus eigener Tasche bezahlt werden muss!

In Deutschland genießen die Eltern diese ganzen Vorteile des Wohlfahrtstaates. Nicht zu vergessen, dass Kinder kostenlos in der Familienversicherung der Eltern krankenversichert sind. Warum herrscht daheim trotzdem Kinderarmut? (Ich wähle bewusst diesen Begriff, denn ein Land ist doch arm, wenn zu wenig Kinder da sind, oder?) Und warum fällt es Amerikanern dagegen offensichtlich leichter, Kinder als Reichtum zu betrachten?



Drei Umstände, die ich beobachtet habe, beeinflussen die amerikanischen Geburtenzahlen: 

1. Familie als solche ist hierzulande ein großer Wert an sich. Der Zusammenhalt zwischen den Generationen ist stärker ausgeprägt (das ist natürlich auch wirtschaftlich bedingt, da hier der Staat weniger stützend eingreift, muss man also zwangläufig zusammenhalten). Großeltern, die in die Stadt der Enkel ziehen, sind zwar nicht alltäglich, aber es gibt sie, denn so kann die ältere Generation die jüngere bei der Betreuung der Kinder unterstützen. Die stärker religiös geprägte Bevölkerung betrachtet Kinder zudem aus Glaubensüberzeugung als Reichtum. Zwar ist die amerikanische Gesellschaft stark individualistisch geprägt, aber das schließt Kinder nicht aus. Wer hier nicht will, dass der Staat einem reinredet, unterrichtet seine Kinder eben selbst (homeschooling), aber deshalb wird nicht auf Kinder komplett verzichtet.

2. Amerikaner verlassen sich nicht auf einen Wohlfahrtsstaat, der sich um ihre Angelegenheiten kümmert. Sie können sich nicht damit rausreden, dass sie ja ihre Steuern zahlen, um gewisse Ansprüche an die Gesellschaft zu stellen. Sie sind vielmehr gezwungen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Das gilt für die möglichst zielstrebige Karriere ebenso wie für die Verteilung der Almosen. Man zahlt in den USA nur geringe Steuern und entscheidet selbst, welche Projekte, Menschen oder beispielsweise Kirchen man mit Spenden oder Freiwilligenarbeit unterstützt. Deshalb identifiziert man sich auch viel stärker mit seinem Engagement. Eltern verlassen sich nicht darauf, dass der Staat die Kinder erzieht und unterrichtet, sondern wollen an der Erziehung teilhaben. Das reicht von Elternspenden für öffentliche Schulen über Projekte, die Eltern an der Schule halten, bis hin zum oben erwähnten homeschooling. In der amerikanischen Kultur ist es wichtig, seinen Teil zur großen ganzen gesellschaftlichen Entwicklung beizutragen. Man lebt hier nach dem Prinzip: "Tue Gutes und rede darüber!" Überspitzt formuliert: Kinder sind ein natürliches Aushängeschild dafür, dass man seinen Part zum Generationenausgleich beiträgt und nicht egoistisch alles (Geld) für sich selbst behält.

3. Amerika ist ein Einwanderungsland. Das liegt zwar nicht an den einfachen Einreisemöglichkeiten, wie wir feststellen mussten, sondern an dem (Werbe-) Bild, durch das Amerika anziehend für so viele Einwanderer ist. Man muss sich schon ganz schön anstrengen, um hier legal aufgenommen zu werden. Aber auch Einwanderer aus ärmeren Gegenden können es trotzdem schaffen. Und die bekommen meist deutlich mehr Kinder als weiße Familien. In Kalifornien hat der größte Teil der Neuankömmlinge mexikanische Wurzeln. Gerade unter der jungen Bevölkerung ist das sichtbar: 2010 betrug der Anteil von Jungen und Mädchen zwischen 0 und 9 Jahren 13,5 Prozent der kalifornischen Gesamtbevölkerung. Betrachtet man nur die Kinder dieses Alters, die mexikanische Vorfahren haben, sind es 7,1 Prozent. Das sind also mehr als die Hälfte aller unter Zehnjährigen, während nur ein kleiner Teil der Rentner und etwa ein Drittel der Erwachsenenbevölkerung in Kalifornien mexikanische Wurzeln hat. Die kalifornische und auch amerikanische Gesellschaft wird sich entscheidend ändern durch diese Kinder. Und auch wenn hier Fremdenhass genauso verbreitet ist wie in Deutschland, baut doch die amerikanische Kultur an sich auf Einwanderung auf.  Ohne diese Neuankömmlinge kämen die Amerikaner auch nicht mehr zurecht, denn sie arbeiten zum größten Teil für günstige Löhne im Service-Bereich. In der nächsten oder übernächsten Generation ist aber ein Präsident mexikanischer Abstammung denkbar.



Wer die Welt bereist, bringt neue Ideen mit nach Hause. Ich selbst komme aus einer kinderreichen Familie und kenne die Vor- und Nachteile. Aber gern würde ich etwas von dieser positiven Einstellung zu Kindern, die ich hier als Grundbaustein der Gesellschaft kennen gelernt habe, wieder mit nach Hause bringen. Das ist doch auch besser als aus Frustation ganz auszuwandern, oder? Schon länger ist es mein Anliegen, Einwanderung in Deutschland zu erleichtern und eine Offenheit für andere kulturelle Einflüsse zu schaffen. Ein zweiter Punkt ist sicher die Angst, Kinder zu bekommen, ohne finanziell vollkommen abgesichert zu sein. Das trifft ja gerade für hoch gebildete Menschen in Deutschland zu (und einige meiner Freunde). Aber vielleicht müssen wir uns immer wieder sagen, dass es 100prozentige Sicherheit nicht gibt. Vielleicht müssen wir einander unterstützen ohne nur auf staatliche Hilfen zu setzen. Vielleicht müssen Eltern ehrlich sein, über die Opfer die das Kinderkriegen kostet, aber auch über das große Geschenk, das man bekommt. Vielleicht müssen wir uns auch politisch als Eltern mehr einmischen. Denn schließlich haben Kinder unter 18 keine eigene Stimme. Aber die wachsende Zahl der älteren Wähler entscheidet über ihre Zukunft, wenn sich Politiker auf Stimmenfang nach ihren Vorstellungen richtet. Vielleicht können wir uns mehr öffentlich engagieren und damit unsere Gesellschaft beeinflussen. Vielleicht brauchen wir neue Visionen für die Zukunft.

Ich freue mich, wenn Ihr mit mir überlegt. Warum warten wir mit dem Kinderkriegen so lange? Warum mischen wir uns nicht mehr ein? Was verlieren wir, wenn wir Kinder bekommen? Was bekommen wir dafür zurück? 



P.S. Dieser Beitrag muss natürlich von "kinderverherrlichenden Fotos" unserer Tochter Hannah Helene bebildert werden. Diesen Ausdruck benutzte meine Freundin Julia, die vor Kurzem zum ersten Mal Mutter geworden ist. Herzlichen Glückwunsch!

1 Kommentar:

  1. Keine Kommentare?! Das darf nicht so bleiben! Liebe Familie Hesse - wir freun uns schon, euch bald wieder hier begrüßen zu können. Und ganz besonders nach diesem Eintrag. Wir denken nähmlich auch schon lang über diese Dinge nach. Eine positive Einstellung gegenüber Kindern können wir hier gut gebrauchen. Auswandern können wir dann ja immer noch später, wegen des homeschooling-Verbots in Deutschland ;)

    Ganz liebe und herzliche Grüße von den Schneiders (derzeit noch 4, ab Januar 5)

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