Dienstag, 3. November 2020

Retro Welt

Beim Stöbern in alten Entwürfen bin ich auf den folgenden Blogeintrag gestoßen. In unserer Zeit in Kalifornien, kam ich nicht dazu, den Text zu beenden - möchte aber gerne die Fotos und den Gedankenanstoß weitergeben. Sie entstanden nach einem Essen im berühmten San Franciscoer Mels Drive-In. 

Am großen Wahltag 2020 blicke ich noch einmal ganz anders zurück auf dieses Bild, was ich selbst lange von den USA hatte: Die heile Welt Amerikas in den 1950ern. Das Jahrzehnt wurde im kollektiven Gedächtnis der (weißen) Amerikaner als gute, alte Zeit gespeichert. Es war die Zeit vor den Rassenunruhen, vor dem Vietnam-Krieg, vor der Hippie-Bewegung, kurz: bevor es Probleme gab. Als weltweit stärkste Wirtschaftsmacht exportierten die Vereinigten Staaten vor allem auch aufpolierte Werbebilder, die selbst uns Europäer prägten: glückliche Hausfrauen in einer blinkenden Küche, lächelnde Kinder mit Schokoriegeln, technische Errungenschaften wie Wäschetrockner, Mikrowelle oder auch die Jukebox.

Dieses Bild hat sich auch sehr tief in mein Gedächtnis eingeprägt - hauptsächlich gespeist aus Filmen, besonders Kinderfilmen, die ich vor allem nach 1989 gesehen hatte. Schon bei meinem ersten Besuch 2004 in den Vereinigten Staaten war ich dann sehr erstaunt: Oberflächlich betrachtet sah vieles wirklich so aus, wie ich es aus Filmen kannte, etwa die Vorortsiedlungen mit dem grünen Gras vor den schönen Einfamilienhäusern oder die Freiheitsstatue in New York. 

Anderseits gibt es diese heile Welt "Amerika" nicht, in der es jeder vom Tellerwäscher zum Millionär schafft und die Hausfrau immer glücklich lächelt. Spätestens in Kalifornien 2014 habe ich doch einiges gelernt über die Ungleichverteilung des Geldes, habe Menschen betteln sehen, wie ich es nur aus den ärmsten Ländern Europas kannte. Ich sprach mit Menschen, die mir von der Unerbittlichkeit des Jobmarktes erzählten, vom Druck zum Erfolg und davon, dass man sofort in Armut stürzen kann, wenn mal eine höhere Krankenhausrechnung fällig wird.

Ich merkte schnell, dass es dieses "Amerika", in dem hauptsächlich weiße Protagonisten mitspielen, gar nicht gibt. Ich recherchierte über die demografische Entwicklung und las Prognosen, die besagen, das in nicht allzu ferner Zukunft die meisten Kalifornier lateinamerikanischer Abstammung sein werden, weil es in diesen Familien mehr Kinder gibt usw.

Und trotzdem gehört ein Essen im Diner unbedingt zu dem, was man in den USA machen muss. Natürlich erinnert alles dort an einen Film, an das Bild, das wir von Amerika auch hier bei uns in Europa haben: Vielleicht kommt Elvis gleich um die Ecke?! Und da ich eine Schwäche für Retro-Chic habe, habe ich mich auf die ganze Unternehmung natürlich sehr gefreut!

Hier kommen meine fotografischen Erinnerungen: 



Mels Drive-In in San Francisco, der gar kein Drive-In ist.


Im Retro-Chick sind die 50iger Jahre neu aufpoliert, aber weniger ehrlich.




Die Milchshakes in Mels waren dickflüssig und süß, wie sie sein müssen.


Heutzutage sind selbst die Jukeboxen digitalisiert. Schade.


Der Film "American Graffiti" aus den 1970ern spielte im ersten Mels
und verankerte Drive-Ins im popkulturellen Gedächtnis der Amerikaner.

Donnerstag, 5. März 2015

Philosophische Betrachtungen


Die ganz großen Fragen im Leben stellt man sich, wenn man jung ist. (Später hat man ja nicht mehr so viel Zeit dafür.) Ich hatte allerdings vergessen, wie jung man dabei ist! Unsere Tochter ist drei Jahre alt. Sie ist im sogenannten Frage-Alter oder Warum-Alter. Allerdings ist die Frage, die sie uns mit großem Abstand am häufigsten stellt: "Why?" Das liegt daran, dass wir in Kalifornien lebten, als unsere Tochter ins entsprechende Alter kam. 

Hat sich ansonsten das Englisch nach unserer Rückkehr vor drei Monaten in Helenes aktiven Sprachgebrauch schnell zurück entwickelt, ist die "Why?"-Frage geblieben. Gekoppelt an einen leicht nervigen leiernden Tonfall. Sie hört nicht auf, sie immer und immer wieder zu stellen. Wenn ich manchmal antworte: "Ich will das jetzt nicht erklären.", stampft sie mit dem Fuß auf und sagt: "Aber Mama! Kinder wollen alles wissen!" Nicht nur der Nervfaktor kann unbequem werden, auch der Inhalt der Fragen meiner Tochter. 


Dieser Obdachlose in San Francisco hat die Nacht am Hafen verbracht, 
den Kopf auf eine Tischplatte gelehnt.

Um das zu erklären, muss ich etwas ausholen: Eine Seite der Vereinigten Staaten von Amerika, die gern unter den Teppich gekehrt wird, ist die extreme Ungleichverteilung von Geld. Es gibt wenige Superreiche und sehr viele arme Menschen. Und arm heißt leider auch richtig arm. Schon vor unserem Aufenthalt im Sonnenstaat Kalifornien hatte ich von den vielen Obdachlosen gehört, die an der Westküste leben. Denn im Winter wird es selten frostig. Man kann also nicht erfrieren, wenn man unter der Brücke schläft. In Berkeley gehören Obdachlose ganz besonders zum Straßenbild, denn die kleine Stadt in der East San Francisco Bay, hat eine sehr engagierte soziale Ausrichtung. Leider kann man die Obdachlosen also nicht ignorieren, was ich gerne getan hätte. Denn einerseits fühlte ich mich ganz hilflos (Wie verhalte ich mich denen gegenüber?), andererseits nicht zuständig (Die Amis sind doch selbst Schuld, wenn sie keine soziale Marktwirtschaft einführen!). Trotzdem taten mir die Menschen sehr leid. So etwas hatte ich vorher höchstens im ärmsten Land Europas gesehen, in Albanien, aber niemals wäre so etwas in Deutschland denkbar: Alte Menschen mit Verkrüppelungen, weil sie keine entsprechende medizinische Versorgung genießen konnten. Verrückte, denen man ausweicht, weil sie stinken und wirres Zeug reden oder wahlweise schreien. Hinzu kamen nicht nur Alkoholiker, sondern Drogenabhängige, die einfach so fertig aussahen, wie ich es nie für möglich gehalten hatte. In Downtown Berkeley kam man nicht an ihnen vorbei. (Das gehört zu meinen ersten Erinnerungen an unser Leben in Amerika.)

Ich versuchte also, schnell und in großem Bogen weiterzugehen. Meine Tochter hat das am Anfang noch ignoriert, aber als sie ins Frage-Alter kam, stellte sie auch zu den Obdachlosen Fragen. Einmal saß eine Frau im Schlafsack und in mehrere Jacken gehüllt am Sonntag Vormittag vor der Bibliothek. Wir wollten unsere Bücher zurückgeben, die man auch Sonntags von Außen durch einen Schlitz werfen kann. Die Obdachlose versperrte uns den Weg und ich musste sie ansprechen. Sie rückte mürrisch zur Seite. Zurück im Auto sprudelte es aus Helene nur so heraus: "Why hat diese Frau kein Haus? Why gibt es zu wenige Häuser? Why hat die kein Geld? Why hat sie keinen Papa?" (Mit letzterem meinte sie den Ehemann, der Geld verdient.) 

Unsere Tochter hatte auch gleich einen Lösungsvorschlag für die Berkleyer Wohnungsfrage (denn ich hatte ihr erklärt, dass es nicht genug Häuser gäbe und wenn wären sie sehr teuer): "Aber in Leipzig gibt es ganz viele Häuser!" Ja, eigentlich hatte sie recht. In Leipzig herrscht trotz des Hypes um die Stadt immer noch Wohnungsleerstand. Warum nicht ein paar Obdachlose aus den USA einfliegen? Amerikanern gegenüber wäre mancher Leipziger vielleicht offener als gegenüber Kosovaren oder Syrern?!

Später griff Helene das Thema wieder auf, weil die obdachlose Frau einen großen Eindruck bei ihr hinterlassen hatte. Sie wollte wieder wissen, warum manche so wenig besitzen, dass sie nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben. Ich schlug vor: "Wir können ja mal überlegen, wie wir denen helfen können." Die prompte Antwort meiner Tochter: "Nein, das soll dieser Jesus machen!" Aha! Wessen Geist offenbarte da mein Kind? Ist es nicht ziemlich einfach, sich als Christ darauf zu beschränken, Mitgefühl im Gebet zu haben, aber ansonsten Nichts zu unternehmen? Was die kalifornischen Obdachlosen betraf, reagierte ich wie mein Kind. Mein Mitleid wich meiner Überforderung und erzeugte leider keine guten Taten.

Aber vielleicht wird es diesmal etwas greifbarer: In einer deutschen Familienzeitschrift hatte ich über das Schicksal von Kinderwitwen gelesen. Von Mädchen, die lange vor ihrer Volljährigkeit von ihren Eltern verheiratet werden und deren Ehemann früh stirbt. In manchen Ländern werden sie von der Gesellschaft ausgeschlossen, weil man glaubt, sie seien Hexen. Ich betete, dass Gott mir zeigt, wie ich ihnen helfen kann. Am nächsten Tag lag eine Broschüre meiner Zeitung bei, über eine Organisation, die sich um Mädchen kümmert, die vielleicht mit elf Jahren verheiratet werden. Ich kann eine Patenschaft übernehmen, damit ein Mädchen aus einem Land, das ich auswähle, Bildungsangebote bezahlen kann und eine Geburtsurkunde bekommt. Ich kann dem Mädchen schreiben und es sogar besuchen, wenn ich möchte. Helene fand die Broschüre und wollte natürlich wissen, wer die darauf abgebildeten Kinder sind und in welchen Ländern sie wohnen. Ich erzählte ihr, dass ihre Familien nicht genug Geld hätten, so dass sie auch nicht zur Schule gehen können. Helene schaute mitfühlend: "Haben die auch kein Spielzeug?" Ich sagte: "Nein, nicht sehr viel." Da war ihre selbstverständliche Antwort: "Ich kann den Mädchen was von meinem Spielzeug abgeben." 


Helene liebt "Lesen" und Nachdenken  - das sollten alle Mädchen dürfen!


Auch Gedanken über Geburt und Tod beschäftigt unsere Dreijährige gerade sehr. Dazu kommen Fragen der Religion. Zur Zeit fragt sie mich so viel über Jesus aus, dass man meinen könnte, wir sprechen zu Hause über Nichts anderes, was allerdings gar nicht stimmt! Gestern wollte sie von mir wissen: "Why ist Jesus Gott?" und "Why kann man Jesus nicht sehen?" und "Why ist Jesus traurig, wenn wir uns streiten?" und "Why wohnt Jesus in unserem Herzen, ist der ganz klein?" 

Meine Antworten will ich hier nicht aufschreiben, denn mich bringt es schon genug ins Schwitzen, meiner Tochter diese großen Fragen zu erläutern. Am meisten erstaunt es mich, dass sie meine Glaubensvorstellungen gründlich abklopft. Einige davon sind aber seit meiner eigenen Kindheit ins Wanken geraten. Auch wenn ich dankbar über meinen kindlich erlernten Glauben bin, stelle ich vieles davon inzwischen in Frage. Im Herzen habe ich allerdings immer noch diese Sehnsucht ... Heute stand mein Kind irgendwann neben mir in der Küche, spielte mit den Kühlschrankmagneten (worauf unter anderem Tiere, Blumen, The Beatles und Jesus sowie Die Mutter Gottes zu sehen sind) und sang ihre eigene Komposition: "Danke Jesus, dass du willst, dass wir immer nett sind."


Helenes Kühlschrankmagneten-Design. Allerdings fehlt Jesus hier, der brauchte seine Ruhe!